Konferenz
Mit „Marginalisierung“ wird in den Sozialwissenschaften der Verdrängungsprozess
einer bestimmten Gruppe an den Rand von gesellschaftlichen Relevanzordnungen bezeichnet, meist verbunden mit der Ideologie einer konkreten Herrschaft. Die Konsequenzen dieses Prozesses werden auch im Umgang mit historischem Kulturgut sichtbar. Das gilt vor allem für Grenzlandschaften, die durch die Verschiebung von Grenzen geprägt oder sogar erst geschaffen werden und für Objekte, die ursprünglich dazu erzeugt wurden, um bestimmte Werte – über ihre reine Funktionalität hinausgehend – innerhalb und außerhalb der eigenen Gemeinschaft dauerhaft zu manifestieren.
Im deutsch-polnischen Grenzgebiet finden wir mehrere Objekte und ganze Objektgruppen, die nicht allein wegen ihrer peripheren geographischen Lage marginalisiert wurden und teilweise noch werden. Im Wesentlichen haben wir es hier mit einer Subkategorie von „dissonant heritage“ (Ashworth/Thurnbridge 1996) zu tun. Genauer genommen handelt es sich hierbei oft um Objekte, die mit den Wirklichkeitskonstruktionen der heutigen Mehrheit nicht kompatibel sind. Die Besonderheit liegt dabei nicht etwa in konkurrierenden Erzählungen, sondern im Fehlen einer kulturgeschichtlichen Verankerung überhaupt. Prinzipiell werden den betroffenen Objekten ihre gestalterischen Werte nicht gänzlich abgesprochen, und dennoch fehlt eine sinnstiftende Motivation, sie vor dem Verfall zu retten.
Im Rahmen der zweitägigen internationalen Konferenz wurden zwei beispielhafte Gruppen marginalisierten Kulturerbes betrachtet: Zeugnisse jüdischer Kultur und ländliche Residenzen einstiger Eliten in peripheren Räumen beiderseits der „mittleren Oder“. Durch Völkermord, Flucht und Zwangsmigration infolge der Grenzverschiebung nach dem Zweiten Weltkrieg sowie durch autoritär durchgesetzte Sozialreformen verschwand der ursprüngliche gesellschaftliche Kontext dieser Objektgruppen gänzlich.
Die „Rückkehr zur Demokratie“ hat die Überlebenschancen beider Genres in beiden Ländern sogar noch geschwächt. Die Transformationsprozesse folgen ihrer eigenen Logik, durch die die Fürsorge für das Bewahren der materiellen Geschichtszeugnisse an Bedeutung verloren hat. Der Umgang mit dem jüdischen Kulturerbe zeigt Asymmetrien: Im heutigen Brandenburg besteht – aus historischen Gründen – eine höhere Bereitschaft, die Überreste zumindest in der offiziellen Erinnerungskultur zu verankern. Auf der polnischen Seite werden sie als eine komplexe Subkategorie der deutschen Geschichte gedeutet. Die Herrenhäuser, die als Knotenpunkte der Kulturlandschaft angelegt wurden, haben theoretisch bessere Chancen auf eine geglückte Aneignung. In der Praxis erweisen sich die einst verstaatlichten, heruntergekommenen und dann reprivatisierten Objekte oft als zu sperrig für private Nutzungen.
Während der Konferenz sollte überlegt werden, welche Potenziale dieses Erbe bietet, um eine diskursive Geschichtsreflexion in den beiden Zivilgesellschaften der Oderregion zu fördern. Dazu gehört aber auch die praktische Frage, wie können wir die Bedeutung und die historische Dimension dieser Objektgruppen sinnstiftend vermitteln? Lässt sich die deutsch-polnische Kulturlandschaft der Mittleren Oder mit einem Netzwerk von Kulturrouten in einen Gesamtzusammenhang setzen? Wie krisensicher ist wertvolle, historische Bausubstanz? Zusammenfassend: Welche Perspektiven eröffnet die Beschäftigung mit marginalisiertem Kulturerbe für die regionale Kulturentwicklung?
Eingeladen waren alle Kolleg:innen, die sich in Wissenschaft und Praxis mit dem vielfältigen Kulturerbe des deutsch-polnischen Grenzlandes befassen.
Die zweitägige Konferenz fand am 7.–8. Juli 2022 im Collegium Polonicum in Słubice statt.